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Der kalte Nachtwind schlug John wie eine Ohrfeige ins Gesicht, aber einen solchen Schlag hatte er jetzt dringend nötig. Er hoffte, dass sein Kopf klarer wurde, dass er wieder durchblickte. Doch auf dem Weg zum Holzhaufen fühlte sich sein Gehirn wie verstopft an. Eine Stunde in Gesellschaft dieser Frau war wie eine Achterbahnfahrt ohne Möglichkeit zum Aussteigen.
Er blickte zurück und sah durchs Fenster, wie sie mit angezogenen Beinen auf dem Sofa saß und ins Leere starrte. Sein Beschützerinstinkt reagierte mit einer heftigen Aufwallung, aber noch heftiger loderte im nächsten Moment seine Wut auf. Als sie ihn mit ihren großen blauen Augen angesehen hatte, wäre er am liebsten auf der Stelle losgestürmt, um ihren brutalen Freund zu Brei zu schlagen. Damit er es sich beim nächsten Mal genau überlegte, wenn er einer wehrlosen Frau etwas zu Leide tun wollte. Damit jeder Gedanke an Gewalt bereits im Keim erstickt wurde ...
Moment! Woher kamen auf einmal diese heftigen Gefühlsreaktionen?
John stieß angewidert den Atem aus. Er musste diese Frau nur ansehen, und schon saß er wieder in der rasenden Achterbahn.
Polizisten, die sich bestimmte Dinge zu Herzen nehmen, können wir nicht gebrauchen.
Zur Zeit war er zwar nicht im Dienst, aber die Warnung war dennoch angebracht. Er kehrte der Hütte den Rücken zu und verfluchte sich, dass er sich wegen eines Routinefalls verrückt machte. Er hatte schon mit Hunderten ähnlich gelagerter Missbrauchsfälle zu tun gehabt! Warum regte er sich wegen dieser Frau so sehr auf?
Weil er erfahren hatte, wie es war, sie zu küssen.
Der bloße Gedanke, einem Mann könnte es größeres Vergnügen bereiten, diesem warmen, wunderschönen Körper Schmerzen zuzufügen, als ihn zärtlich zu verwöhnen, überstieg sein Vorstellungsvermögen. Er verspürte den intensiven Drang, in die Hütte zurückzugehen, sie in die Arme zu nehmen und die Stunden der Nacht damit zu verbringen, ihr zu zeigen, wie ein Mann eine Frau behandeln sollte. Damit sie etwas zum Nachdenken hatte, wenn das nächste Mal ein Schweinehund wie dieser Freund auf die Idee kam, seine Wut an ihr auszulassen. Damit sie verstand, dass es für jeden Kerl wie ihn tausend andere Männer gab, die bereit waren, sie so zu berühren, dass sie sich mit feuchten Träumen und nicht mit schrecklichen Albträumen daran erinnerte ...
Er zerrte ein paar Holzscheite vom Stapel und verfluchte sich erneut. Er konnte es nicht fassen. Er begehrte sie noch immer. Selbst nach allem, was sie ihm erzählt hatte, war er scharf auf sie. Wofür hielt er sich? Für einen Sozialarbeiter in Sachen Sex?
Es wäre schön gewesen, wenn er ihr die Schuld an allem hätte zuschieben können, aber er wusste, dass er schon im Diner mit dem Feuer gespielt hatte und dann mitten in die Flammen hineinmarschiert war. Es war ein Paradebeispiel für das, was geschah, wenn er seinen Polizistenverstand vorübergehend ausschaltete. Er war nicht mehr in der Lage, die Dinge logisch und rational zu betrachten.
Dann fing er an, auf Handtuchspender einzuschlagen.
Mit neuer Entschlossenheit kehrte er zur Hütte zurück. Sie durfte die Nacht bei ihm verbringen, weil es unmenschlich gewesen wäre, es ihr nicht zu gestatten. Morgen früh würde er sie bei den Kollegen der nächstgelegenen Wache abliefern und ihr noch einmal ins Gewissen reden, unbedingt eine Aussage zu machen. Wahrscheinlich würde sie sich zunächst sträuben, wie die meisten Frauen, die missbraucht wurden, aber , das war nicht mehr sein Problem. Anschließend würde er zu Harley fahren, nachsehen, was Marva gekocht hatte, und sich anhören, was es Neues in Winslow gab.
Und wenn eine hübsche Frau ins Restaurant spazierte und Sex haben wollte, würde er ihr seine Polizeimarke vor die Nase halten, wie man einen Vampir mit einem Kruzifix abwehrte, und ihr vorschlagen, sich für ihre Gelüste ein anderes Opfer zu suchen.
Renee beobachtete, wie John die Holzscheite in den Kamin stapelte. Es war nicht zu übersehen, dass er immer noch wütend war. Nun, vielleicht nicht mehr wütend, aber zumindest verärgert, gewürzt mit einer kräftigen Prise Enttäuschung. Offensichtlich wollte er sie so schnell wie möglich wieder loswerden, was sie ihm nicht einmal verübeln konnte. In ihrem verzweifelten Bemühen, Leandro zu entfliehen und sich hier zu verstecken, hatte sie diesen Mann zum Narren gehalten - genauso, wie er es ihr vorgeworfen hatte. Zum Glück ahnte er nicht, dass sie ihn auch jetzt noch zum Narren hielt, und sie betete, dass er niemals die Wahrheit erfuhr.
»Hast du Hunger?«, fragte er in brüskem, unpersönlichem Tonfall.
Hunger war nicht das richtige Wort. Bärenhunger traf es schon etwas besser.
»Ah ... ja. Etwas.«
Er ging in die Küche, warf einen Blick in den Kühlschrank und kramte dann in den Wandschränken. Schließlich kehrte er mit einer Tüte Brezeln und einer Dose Cola zurück.
»Ich habe in den letzten Tagen immer im Diner gegessen. Hier habe ich keine größeren Vorräte angelegt.«
»Kein Problem«, sagte Renee. Sie war so hungrig, dass sie die Polsterung des Sofas gegessen hätte, wenn er ihr lange genug den Rücken zugekehrt hätte. Er reichte ihr die Tüte und die Dose, dann brummelte er, dass er jetzt duschen gehen würde, und verschwand im Bad.
Renee stopfte die Brezeln in sich hinein, während Bilder von Pasta Funghi und Kalbsschnitzel an ihrem geistigen Auge vorbeizogen. Italienische Gerichte. Dadurch musste sie an das Restaurant denken, in dem sie arbeitete. Oder gearbeitet hatte. Sie seufzte wehmütig. Wenn ihr nicht jemand die Beute eines Raubüberfalls und die Tatwaffe auf den Rücksitz ihres Wagens geworfen hätte, wären ihre größten Sorgen jetzt doppelt gebuchte Reservierungen oder ein umgekippter Chianti.
Hör auf. Denk nicht mehr an das Leben, das du hinter dir gelassen hast. Damit machst du dich nur verrückt.
Nachdem sie fast alle Brezeln gegessen hatte, faltete sie die Tüte mit dem Rest zusammen und brachte sie mit der leeren Cola-Dose in die Küche zurück. Sie schwor sich, die erste Gelegenheit zu einer ordentlichen Mahlzeit wahrzunehmen. Dann ließ sie sich wieder aufs Sofa fallen und blinzelte träge. Der rotgoldene Schein des Feuers und das Rauschen der Dusche im Badezimmer übten eine hypnotische Wirkung auf sie aus.
In diesem Dämmerzustand erinnerte sie sich wieder daran, wie John sie geküsst hatte. Langsam wurde dieses Bild von anderen Szenen abgelöst, die noch wesentlich erotischer waren. Normalerweise hätte sie diese Fantasien sofort verdrängt, wenn sie nicht so müde und die Bilder nicht so unglaublich verlockend gewesen wären.
Sie stellte sich vor, wie er unter der Dusche stand, wie sein nackter Körper in surrealistische Dampfschwaden gehüllt wurde, wie seine Muskeln feucht glänzten. Sie folgte der Seife, die an einem Arm hinunter- und wieder hinaufglitt, dann quer über den breiten Brustkorb, wo sie in den Haaren aufschäumte, bis sie von einem Wasserstrahl fortgespült wurde. Sie sah, wie er sich umdrehte, um sich die Schultern massieren zu lassen; er ließ sie ein oder zweimal kreisen, um seine Verspannungen zu lockern. Dann schloss sie die Augen und wagte sich nun in wahrlich unerkundete Regionen vor.
Sie sah sich, wie sie das Bad betrat, den Duschvorhang zur Seite schob und seine verblüffte Miene betrachtete. Sie sah, wie er sie mit einer kräftigen, fließenden Bewegung unter die Dusche zog, wie er sie gegen die geflieste Wand drückte und sie küsste. Zunächst ignorierte er einfach, dass sie noch vollständig bekleidet war, doch schon bald hatte er für Abhilfe gesorgt. In diesem speziellen Tagtraum ging das heiße Wasser niemals zur Neige. Sie standen die ganze Nacht unter der Dusche und liebten sich heiß und innig, wie es zwei Menschen taten, die nur füreinander Augen hatten.
Zumindest hatte sie irgendwann mal davon gehört.
Dann hörte sie, wie die Duschhähne quietschten und das Rauschen verstummte, darauf das leise Klicken der Ringe, als er den Duschvorhang zur Seite schob. Wenige Minuten später ging die Badezimmertür auf, und John kehrte zurück. Hinter ihm breitete sich eine Dampfwolke in der kühlen Luft des Wohnraums aus. Renee starrte ihn sprachlos an und hatte plötzlich Schwierigkeiten, genügend Luft zu bekommen. Was den Körper dieses Mannes betraf, war ihr Tagtraum viel mehr als nur eine vage Vorahnung gewesen.
Er trug Jeans. Nichts außer Jeans. Die Füße und der Oberkörper waren nackt. Er trocknete sich das Haar mit einem Handtuch. Überrascht stellte sie fest, dass er sich sogar rasiert hatte. Er hatte schon vorher gut ausgesehen, aber dass er nun rasiert und zur Hälfte nackt war, erregte ihre Aufmerksamkeit erneut. Zwanghaft musterte sie jeden Quadratzentimeter seines Körpers, von der breiten, muskulösen Brust über die kräftigen Arme, die sie noch vor einer knappen halben Stunde umschlossen hatten, bis zu seinen nackten Füßen, die sie auf unerklärliche Weise reizvoll fand. Seine Füße! Was war plötzlich mit ihr los? Sie konnte sich nicht erinnern, jemals die Füße eines Mannes als sexy empfunden zu haben, aber jetzt übten sie genau diese Wirkung auf sie aus.
Als ihr Blick wieder nach oben wanderte, sah sie, dass er aufgehört hatte, sich die Haare zu trocknen, und sie anstarrte. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie lange sie seinen Körper betrachtet hatte und wie offensichtlich es war, dass sie ihn begaffte. Sie blickte zur Seite und fuhr sich nervös mit einer Hand durchs Haar. Ihre Wangen wurden warm, und sie hoffte, dass sie nicht errötete.
John ging zu einem Schrank, nahm ein abgetragenes Flanellhemd heraus und zog es über. Das Handtuch warf er ins Badezimmer zurück, dann knöpfte er sich das Hemd zu, während er zu ihr herüberkam.
»Das Sofa ist ein aufklappbares Bett«, sagte er. »Das einzige Bett in dieser Hütte.«
Das hatte sich Renee bereits gedacht, da sie nirgendwo so etwas wie ein Schlafzimmer gesehen hatte, aber im Stillen hoffte sie immer noch, dass sie sich vielleicht in einen abgelegenen Bungalow des Holiday Inn verirrt hatte und jeden Moment ein Angestellter kam, um eine Pritsche vorbeizubringen.
»Und ich glaube, dass du genauso wenig davon hältst, auf dem Boden zu schlafen, wie ich.«
»Du willst ... dass wir beide in einem Bett schlafen?«
»Hör mal, wenn ich die Situation hätte ausnutzen wollen, hätte ich es schon längst tun können, meinst du nicht auch? Du bleibst auf deiner Seite, ich bleibe auf meiner Seite, dann haben wir beide es bequem. Hast du damit irgendein Problem?«
Ja. Sie hatte damit ein riesengroßes Problem. Sie hatte ihn soeben mit der Faszination eines Astronomen bewundert, der einen neuen Himmelskörper entdeckt hatte - und jetzt sollte sie neben ihm schlafen? Sie bekam ihre erotischen Fantasien in den Griff, solange sie sich in der Vertikalen befanden, aber sie war sich nicht sicher, ob ihr das auch in der Horizontalen noch gelang.
»Nein. Kein Problem.«
Sie stand vom Sofa auf. Er warf die Kissen herunter, klappte die Vorrichtung auseinander und holte Bettwäsche aus dem Schrank. Obwohl es ein recht großes Sofa war, wirkte es als Bett erstaunlich klein.
John ging auf seine Seite, schlüpfte unter die Decke und streckte sich aus. Renee näherte sich zaghaft dem Bett, dann zog sie die Schuhe aus und legte sich auf die andere Seite. Wenn er sich unter der Decke befand, wäre es vielleicht besser, wenn sie auf der Decke lag.
»Das Feuer geht in einigen Stunden aus«, sagte er. »Dann wirst du frieren, wenn du dich nicht zudeckst.«
Sie zögerte kurz, dann erkannte sie, dass es nach allem, was geschehen war, sehr undankbar erscheinen würde, wenn sie ihm immer noch Misstrauen entgegenbrachte. Also glitt sie ebenfalls unter die Decke. Er schaltete die Lampe auf dem Sofatisch aus und legte sich auf das Kopfkissen. Nachdem die künstliche Beleuchtung erloschen war, tauchte das Feuer den Raum in einen warmen, goldenen Schein. Und obwohl sie zwei Handbreit voneinander entfernt waren, dauerte es nicht lange, bis sie Johns Körperwärme unter der Decke spürte.
»Alice?«
Johns tiefe und wohltönende Stimme unterbrach die Stille. Renee brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass er sie mit dem falschen Namen ansprach, den sie ihm genannt hatte.
»Ja?«
»Warum hast du mir nicht schon früher von deinem Freund erzählt?«
Weil ich ihn mir erst später ausgedacht habe.
»Ich weiß es nicht. Ich schätze, ich hatte Angst davor.«
»Angst? Wieso?«
Renee überlegte. »Nach dem, was ich im Diner zu dir gesagt hatte, fürchtete ich mich vor deiner Reaktion, wenn ich dann doch nicht... wenn ich es doch nicht tun wollte.«
»Was hast du gedacht, wie ich reagieren würde?«
Renee schwieg.
»Glaubst du, ich hätte dir wehgetan? Hast du wirklich davor Angst gehabt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nun, du hast recht laut herumgeschrien ...«
»Richtig. Ich habe dich angeschrien. Weil du mich wahnsinnig gemacht hast. Weil du mir nicht die Wahrheit sagen wolltest. Aber mehr habe ich nicht getan.« Er hielt inne. »Mehr als schreien würde ich niemals tun.«
Renee hörte den beleidigten Unterton in seiner Stimme, und plötzlich wurde ihr klar, was er ihr damit sagen wollte. Dass er trotz seiner Wut ganz anders als ihr erfundener brutaler Freund war. Und als sie sich erinnerte, wie er sie geküsst hatte, wusste sie, dass er ein Mann war, der nicht nur seinen Spaß haben wollte, sondern genauso gerne Vergnügen bereitete.
»Und ganz gleich, was du mir im Diner versprochen hast«, fügte er hinzu, »ich hätte dich niemals zu etwas gezwungen, das du nicht willst.«
Und wenn ich es jetzt doch will?
Der Gedanke war so klar und deutlich, dass Renee einen Moment lang befürchtete, sie könnte ihn laut ausgesprochen haben. Es war völlig verrückt. Nachdem sie jetzt wusste, dass er kein sexbesessenes Monstrum war, schien sie nur noch daran denken zu können, endlich Sex mit ihm zu haben. Sie wollte es eigentlich gar nicht tun. Zumindest nicht alles. Aber sie fragte sich, was geschehen würde, wenn sie näher an ihn heranrückte, eine Hand auf seine Wange legte und ihn küsste. Nur ein Kuss, um die Erinnerung zu beleben, wie wunderbar es gewesen war. Was würde er dann tun?
Nachdem sie zuvor so heftig protestiert hatte, würde er morgen früh vermutlich an der nächsten Polizeiwache vorbeifahren und sie direkt in die Irrenanstalt einliefern.
»Lass nicht zu, dass Männer dir wehtun«, sagte John. »Das musst du dir nicht gefallen lassen.«
Die Besorgnis, die sie aus seinem schroffen Tonfall heraushörte, steigerte ihr schlechtes Gewissen in ungeahnte Höhen. »Ich weiß«, sagte sie leise. »Ich werde mich daran halten. Von nun an.«
Er stieß einen verzweifelten Seufzer aus, als glaubte er ihr kein Wort, als könnte er stundenlange Vorträge über dieses Thema halten, während er genau wusste, dass es sinnlos war.
»Gute Nacht, Alice«, flüsterte er. Dann schloss er die Augen und schwieg. Minuten später hörte sie ihn ruhig und gleichmäßig atmen. Er war eingeschlafen.
Renee drehte sich herum und sah ihn an. Sie wollte die Gelegenheit ausnutzen, ihn ausgiebig zu betrachten, ohne dass er ihren Blick mit Wut oder Mitleid erwiderte oder sie befürchten musste, er könnte sie bei einer Lüge ertappen. Die Entspanntheit seines Gesichts im Schlaf verstärkte das Feuer noch, das ihn so attraktiv machte, und sie atmete seinen Anblick in tiefen Zügen ein. Auf einmal war die Vorstellung, dass er sie berührte, gar nicht mehr Furcht einflößend, jetzt sehnte sie sich nur noch danach.
Ihre Erinnerungen an sexuelle Intimitäten beschränkten sich auf ein paar Jungen, die keine Ahnung vom Sex gehabt hatten. Ganz im Gegensatz zu John - falls die Art, wie er küsste, irgendwelche Rückschlüsse erlaubte. Erneut gab sie sich betörenden Fantasien hin und stellte sich vor, wie es wäre, mit einem richtigen Mann Sex zu haben. Nicht mit einem Jungen, der fertig war, bevor sie überhaupt gemerkt hatte, dass es losgegangen war.
Mit einem richtigen Mann.
Sie verspürte ein so heftiges Begehren, dass es schmerzte. Sie hatte im Laufe der Jahre viele Freunde gehabt, aber wenn sie feststellten, dass sie wirklich Nein meinte, wenn sie Nein sagte, waren sie wieder auf Abstand gegangen.
Es war ja nicht so, dass sie gar keinen Sex wollte. Was sie nicht wollte, waren die Konsequenzen, die sich aus dem Sex ergaben. Nicht nur die Probleme mit Schwangerschaft, AIDS und sonstigen ansteckenden Krankheiten. Sie erinnerte sich noch gut an die Gelegenheiten, wo sie sich jungen Männern hingegeben hatte, ohne etwas zurückzubekommen, und an die Scham und Einsamkeit, die sie anschließend empfunden hatte. Eine solche Enttäuschung wollte sie nie wieder erleben. Nachdem sie vor acht Jahren aufgewacht war, hatte sie sich geschworen, ihren Körper nur noch zu benutzen, um ihn mit Kleidung zu behängen und ihr Gehirn von A nach B zu transportieren - so lange, bis ihr Mr Right über den Weg lief. Und sie hatte ihr Versprechen bis jetzt gehalten. In jenem schicksalhaften Sommer während ihres achtzehnten Lebensjahrs, als sie die Selbstachtung zu ihrem neuen Lebensziel erwählte, hatte sie geschworen, dass der nächste Mann, dem sie sich hingab, ein Mann sein würde, dem sie vertraute. Ein Mann, den sie liebte.
Ein Mann, der sie liebte.
Dann stieß sie einen leisen Seufzer des Bedauerns aus. Selbst wenn sie einen Mann fand, dem sie vertrauen konnte, der mehr von ihr wollte als Sex auf Abruf - wie konnte sie zulassen, dass er sie liebte, wenn sie den Rest ihres Lebens auf der Flucht verbringen würde?
Sie rollte sich auf die Seite und lag ruhig da. Sie versuchte, alle Gedanken an den nächsten Morgen zu verdrängen, und hoffte, dass sie wenigstens eine Nacht durchschlafen konnte, bevor sie gezwungen war, John von neuem zu belügen. Dann fiel ihr Blick auf die Küchenanrichte, wo etwas silbern glitzerte.
Johns Autoschlüssel.
Renee erstarrte. Sie brauchte ganze fünf Sekunden, bis sie begriff, welche Gelegenheit sich ihr bot. Und als sie es begriffen hatte, versetzte sie sich eine mentale Ohrfeige, weil sie nicht zu einem günstigeren Zeitpunkt daran gedacht hatte. Zum Beispiel, als er geduscht hatte. Autodiebstahl war etwas einfacher, wenn der Eigentümer beschäftigt und abgelenkt war. Oder nackt. Oder beides.
Nein. Sie konnte seinen Wagen nicht stehlen.
Nun, vielleicht war es gar kein Diebstahl im eigentlichen Sinne. Nicht, wenn sie den Wagen eine Zeit lang benutzte, ihn dann irgendwo abstellte und John telefonisch mitteilte, wo er ihn abholen konnte. Autodiebstahl war, wenn man die Armaturen herunterriss, die Zündung kurzschloss und den Wagen demolierte, um ihn schließlich auf dem Schrottplatz zu entsorgen, wo er in einen nicht mehr identifizierbaren Haufen aus Einzelteilen zerlegt wurde. Das war Autodiebstahl. Was ihr durch den Kopf ging, war eher so etwas wie ... Ausborgen.
Sie überlegte, dass sie ziemlich schnell mit dem Wagen abhauen musste. Wenn er aufwachte und feststellte, dass sie und sein Auto verschwunden waren, würde er sofort die Polizei informieren und es als gestohlen melden. Man hätte sie geschnappt, bevor sie wusste, wie ihr geschah.
Einen Moment! Er konnte niemanden anrufen. Sofern sie nichts übersehen hatte, gab es kein Telefon in dieser Hütte. Das einzige Telefon, das sie gesehen hatte, war ein Handy, das sich in seinem Wagen befand. Mit dem sie dann unterwegs wäre.
Das bedeutete, er wäre hier, mitten in der Wildnis, völlig von der Außenwelt abgeschnitten, ohne Kommunikationsoder Transportmöglichkeit. Ihr Gewissen protestierte und schrie sie an, dass sie ihm das nicht antun konnte. Doch dann wog sie die Konsequenzen gegeneinander ab. Wenn sie mit seinem Wagen wegfuhr, musste er fünfzehn oder zwanzig Kilometer weit zu Fuß marschieren, um in die Zivilisation zurückzukehren. Wenn sie nicht mit seinem Wagen wegfuhr, würde sie höchstwahrscheinlich die nächsten fünfzehn oder zwanzig Jahre im Gefängnis verbringen.
Sie befahl ihrem Gewissen, die Klappe zu halten.
Anschließend lag sie längere Zeit völlig ruhig da und blinzelte ständig, um wach zu bleiben. Nachdem fünfzehn oder zwanzig Minuten vergangen waren und John sich nicht gerührt hatte, hob sie vorsichtig die Decke und setzte sich auf. Als das Bett knarrte, bekam sie fast einen Herzanfall. John bewegte sich leicht, dann war er wieder ruhig.
Sie nahm ihre Schuhe und ging damit zur Anrichte. Bei jedem Schritt beobachtete sie John und hob die Schlüssel so vorsichtig wie irgend möglich auf, damit sie nicht klirrten. Neben dem Schlüssel lag seine Brieftasche. In Brieftaschen befand sich in der Regel Geld, und sie konnte gut etwas gebrauchen. Sogar sehr dringend.
Sie seufzte abermals. Schon wieder das Problem mit dem Stehlen.
Andererseits ... wenn sie ihm das Geld später mit Zinsen zurückschickte, wäre auch das kein richtiger Diebstahl, nicht wahr? Es wäre eher ... als hätte sie es für ihn investiert. Wenn sie ihm einen Zinssatz von beispielsweise fünfzehn oder zwanzig Prozent einräumte, hätte er eigentlich keinen Grund, sich zu beklagen.
Sie öffnete die Brieftasche und wollte die Banknoten herausnehmen, die sich darin befanden. Aber Geld war nicht das Erste, was sie sah. Als ihr endlich dämmerte, was sie sah, musste sie sich den Mund zuhalten, um nicht laut zu keuchen.
Eine Polizeimarke.
Sie drehte sie ein wenig, damit sie den Feuerschein auffing, dann las sie den eingravierten Namen. John DeMarco. Tolosa Police Department.
Allmächtiger! John war ein Bulle!
Ihre Knie wurden weich, und in ihrem Bauch breitete sich ein unangenehmes Gefühl aus. Mehrere Sekunden lang stand sie nur da, als wären ihre Füße mit dem Boden verschweißt. Sie hatte einen Polizisten angebaggert. Sie war in das Diner marschiert und hatte sich mit selbstmörderischem Instinkt genau den Mann herausgesucht, der sowohl die Fähigkeit als auch die Befugnis besaß, sie für immer hinter Gitter zu bringen.
Sie musste von hier verschwinden. Sofort.
Sie zog sämtliches Papiergeld aus der Brieftasche und stopfte es sich in eine Hosentasche. Lautlos ging sie zur Tür, während ihr Herz wild pochte. Sie drehte den Türknauf, bis er leise klickte. Als sie die Tür öffnete, quietschten die Scharniere leicht. Sie fuhr herum und hielt den Atem an. John drehte sich um, doch nun kehrte er ihr den Rücken zu und blieb still.
Sie schlüpfte nach draußen und schloss vorsichtig die Tür. Auf Zehenspitzen lief sie über den Waldpfad zum Explorer. Ihr warmer Atem kondensierte in der kühlen Nachtluft. Sie drückte ihre Schuhe an die Brust und versuchte, den Stellen auszuweichen, wo sich die Kiefernnadeln häuften, weil sie unter ihren Füßen knirschen würden. Sie blickte sich über die Schulter um. In der Hütte war alles ruhig.
Würde er sie hören, wenn sie den Wagen anließ?
Es spielte keine Rolle. Es kam nur darauf an, dass sie in den Wagen gelangte und die Türen verschloss, bevor er nach draußen kam. Dann konnte er sie nicht mehr aufhalten.
Sie erreichte den Explorer und schob den Schlüssel ins Türschloss. Ihre Zähne klapperten vor Kälte. Gebetsfragmente gingen ihr durch den Kopf. Sie versprach Gott, viele gute Taten zu leisten, wenn alles vorbei war. Dazu musste er ihr nur ein wenig helfen, aus dieser kleinen Patsche herauszukommen. Es reichte schon, wenn er dafür sorgte, dass John bis morgen früh um zehn schlief. Und wenn dann noch die Person, die wirklich für den Bankraub verantwortlich war, vortreten und alles zugeben würde, wäre alles überstanden ...
Als sie den Schlüssel drehte, hörte sie hinter sich ein leises Knirschen. Sie wirbelte herum, und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass der Polizist, der in einigen Metern Entfernung schlummerte, ihr kleinstes Problem war. Ihr größtes Problem war der hässliche, tätowierte, höhnisch grinsende Berg aus Muskeln, der plötzlich auf dem Waldpfad aufgetaucht war. Sein goldener Ohrring glitzerte im Mondlicht.
»Hallo, Süße. Wohin soll‘s denn gehen?«